„Hilferufe des Militärbischofs“
Sigurd Rink bekennt sich in einem neuen Buch zu Selbstzweifeln und Ratlosigkeit, votiert aber zielstrebig für Aufrüstung, militärische Auslandseinsätze und eine erneute allgemeine Wehrpflicht[1]
Von Peter Bürger [Diese Rezension finden Sie auch ganz unten auf dieser Seite - bitte scrollen - als pdf-Dokument zum Herunterladen]
„Ich möchte mich fast rühmen, dass seit der Zeit der Apostel das weltliche Schwert und die Obrigkeit noch nie so deutlich beschrieben und gerühmt worden ist wie durch mich.“ (Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526)
Rezension zu „Sigurd Rink: Können Kriege gerecht sein? Glaube, Zweifel, Gewissen – Wie ich als Militärbischof nach Antworten suche. Unter Mitarbeit von Uta Rüenauver. Berlin: Ullstein 2019“; ISBN 978-3-550-20004-5, fester Einband, 286 S., 20 €.
Sigurd Rink, oberster Leiter des protestantischen Militärkirchenwesens in Deutschland, hat 2019 ein Buch „Können Kriege gerecht sein?“ vorgelegt. Der Buchtitel setzt ein Fragezeichen hinter den
neuen Friedensdiskurs der Ökumene. So hat etwa der gegenwärtige Bischof von Rom im Buchgespräch mit Dominique Wolton die Botschaft der internationalen katholischen Friedenskonferenz „Nonviolence
and Just Peace“ (Rom 2016) bekräftigt: „Kein Krieg ist gerecht. Die einzig gerechte Sache ist der Frieden.“ Diese Feststellung wird hierzulande auch von mehreren evangelischen Landeskirchen –
ohne Hinzufügung eines Fragezeichens – sowie in bedeutsamen Entschlüssen der Ökumene auf weltkirchlicher Ebene getroffen.
1. Autor und „Co-Autoren“
Der Buchautor Dr. Sigurd Rink übt als erster evangelischer Militärbischof der Bundesrepublik Deutschland sein Amt hauptamtlich aus. Er ist 2014 vom damaligen EKD-Bischof Nikolaus Schneider um die
Übernahme dieses Amtes gebeten und dann von der EKD-Kirchenleitung ernannt worden.[2] (Eine Bischofswahl mit Gegenkandidaten*innen, Aussprache usw., wie sie sonst in den Synoden demokratisch
strukturierter Kirchen der Reformation üblich ist, hat hierbei offenbar nicht stattgefunden.) In der hessisch-nassauischen Landeskirche, aus welcher der Militärbischof kommt, gibt es im
hochkirchlichen Sinne gar kein eigenes Bischofsamt (S. 30-32), und weil S. Rink früher einmal Pazifist war, kam aus dem persönlichen Umfeld nicht nur Unterstützung: „Meine Entscheidung, mich zum
Militärbischof berufen zu lassen, stößt bei manchen […] auf großes Befremden und heftige Kritik.“ (S. 29) Seine Amtsführung versteht S. Rink offenbar eher in der Weise der herkömmlichen
röm.-kath. Bistumshierarchie. Er spricht jedenfalls von „meinem Beirat für die Seelsorge in der Bundeswehr“ (unter dem Vorsitz des EKD-Friedensbeauftragten), „meinem Stab in der Bundesbehörde
‚Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr‘“ (S. 13) und „meinen 108 Pfarrerinnen und Pfarrern im Feld“ (S. 14). Am Tag der Einsegnung als Militärbischof wurde ihm ein eindrucksvolles –
scheinbar goldenes – Bischofskreuz umgehängt. (Das Detail ist nicht ganz nebensächlich: Der gegenwärtige Bischof von Rom sympathisiert z.B. mit den Anschauungen des Katakomben-Paktes der Kirche
der Armen auf dem letzten Konzil und trägt ein völlig unscheinbares, materiell ziemlich wertloses Bischofskreuz[3] ohne Gold.) Das mutmaßlich goldene Militärbischofskreuz wird von S. Rink bei
offiziellen Anlässen getragen, so auch bei der Vorstellung des hier rezensierten Buches, bei welcher die Ministerin für das Militärressort, der auch die militärbischöfliche Bundesbehörde
zugeordnet ist, aktiv beteiligt war.
Im Vorwort werden „zwei Co-Autoren“ kurz vorgestellt: die vom Ullstein-Verlag für das Buchprojekt ausgewählte Philosophin Uta Rüenauver und Militärdekan Klaus Becker (S. 12). Als Leser kann man
jedoch nicht nachvollziehen, welche Anteile bzw. Passagen auf die Urheberschaft der Co-Autoren zurückgehen. Das ist bei einem über weite Strecken äußerst persönlichen und zugleich
kirchenpolitisch brisanten Buch wie diesem Werk zumindest ungewöhnlich. Transparent ist die Tatsache einer Mitwirkung des Bundesministeriums für das Militärressort bei der Publikation des
Militärbischofs. Sigurd Rink schreibt: „Ich danke der Presseabteilung des Verteidigungsministeriums für die sehr genaue Durchsicht des Manuskripts, einen Faktencheck gleichsam. Das heißt nicht,
dass wir in allem einer Meinung wären. Das wäre auch seltsam. Aber gewonnen hat das Buch durch die Zusammenarbeit, und Fehler, die sich dennoch eingeschlichen haben, nehme ich getrost auf mich.“
(S. 13)
2. Unterschiedliche biographische Prägungen kommen zum Tragen
Im Einklang mit der erwiesenen kirchengeschichtlichen Kompetenz des Verfassers werden historische Befunde zum – allerdings irreführend als Naherwartungsphänomen eingestuften – frühchristlichen
„Fundamentalpazifismus“ (S. 77-78) und zur deutschen Kriegs- und Militärkirchlichkeit an keiner Stelle des Buches verschleiert; insbesondere liegen dem Autor auch Annäherungen im EKD-Bereich an
eine revisionistische Sicht des Ersten Weltkrieges[4] fern. Die Abgründe der Kollaboration der deutschen Wehrmachtsseelsorge beim Rasse- und Vernichtungskrieg[5] können den Lesern freilich im
Rahmen der kurzen Exkurse nicht anschaulich vermittelt werden.
Im Buchessay von Sigurd Rink kommen – auf der Grundlage eines erzählenden Grundtons – sehr unterschiedliche Stile und Genres zusammen. Manche Abschnitte enthalten eine – im ganzen Werk wiederholt
aufgegriffene – autobiografische Selbstbesinnung, die möglicherweise gleichzeitig auch Kritiker aus dem persönlichen Umfeld – etwa in der Kommunität von Imshausen bei Bebra (S. 39-40) – zum
Adressaten hat. Eingefügte Landschaftsbeschreibungen mit z.T. sehr gefühlvollen Stimmungsbildern zu den Dienstreisen im Ausland – und Zitaten aus der schönen Literatur – sollen hier nicht
bewertet werden. Vielleicht ist daran gedacht, den in der Kriegsliteratur so oft bearbeiteten Kontrast zwischen einer faszinierenden Naturerfahrung und den Abgründen einer gewalttätigen
Zivilisationsform aufzugreifen.
Die geschilderte Prägung im Elternhaus von Sigurd Rink weist auf Einflüsse hin, die in Spannung zu einander stehen. Die Mutter bezeugt einen lebensfrohen, von der Bekennenden Kirche herkommenden
Glauben; sie „sah eine Kontinuität vom militaristischen 19. Jahrhundert zu den Nazis“ und „verabscheute jeden Nationalismus“ (S. 32, 33). Der früh verstorbene Vater war als traumatisierter
Wehrmachtssoldat aus dem Ostfeldzug zurückgekehrt und betrachtete – auf der Grundlage eines „deutschnationalen“ bzw. nationalprotestantischen Standortes – den Nationalsozialismus nur als
„singuläre Entgleisung“ der deutschen – und insbesondere preußischen – „Kulturnation“ (S. 33-34, 39). Lebensgeschichtlich wird zunächst das geistige Erbe der Mutter richtungsweisend: Als junger
Mensch (S. 41-43) steht Sigurd Rink ab 1980 jener ökologisch-pazifistischen Bewegung nahe, die sich parteipolitisch in Form der „Grünen“ organisiert und später – wie auch der Militärbischof
selbst – zum größten Teil nach Eintritt in etablierte Funktionen den Pazifismus hinter sich lässt (mit gravierenden Auswirkungen auf die Remilitarisierung der deutschen Politik, welche die
Konservativen ohne die Assistenz ehemaliger Pazifisten kaum hätten durchsetzen können).
3. Positive Bezugnahme auf Luthers Kriegs-Schrift von 1526
Die Annäherung an nationalprotestantische Sichtweisen im reiferen Alter wird besonders deutlich an den rundherum positiven Bezugnahmen auf Martin Luthers Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande
sein können“ (1526), welche das Militärbischofsamt unter Sigurd Rink neu ediert[6] hat (S. 81-87). Schon viele lutherische Christ*innen hat dieses Werk zur Rechtfertigung von Tötungsakten betrübt
– nicht nur wegen seiner grausamen Wirkungsgeschichte in der Geschichte unseres Landes. Stets legitimiert der Reformator allein die tötende Schwertgewalt von ganz oben nach unten – gegen die
Untergebenen, denen nur das Erdulden ohne Widerstandsrecht zukommt (Editionsüberschriften zu entsprechenden Luther-Kapiteln: „Aufruhr gegen die Obrigkeit, egal was für eine, ist Gott stets
zuwider“; „Tyrannei ist von Gott verhängt und schadet der Seele nicht, also kein Grund zum Aufruhr!“; „Böse Obrigkeit ist wie Krieg – hinzunehmen“; „Böse Obrigkeit ist Strafe für Sünde des
Volkes“; „Krieg gegen die Obrigkeit ist immer unrecht“; „Die Obrigkeit darf ihre Untertanen strafen“; „Die Obrigkeit leitet ihre Gewalt von Gott her“).
Luther vergleicht die tötende Gewaltausübung des „rechtschaffen[en] und göttlich[en]“ Soldatenstandes im Auftrag der von ihm als rechtmäßig qualifizierten Staatsobrigkeit – gut augustinisch[7] –
mit dem vom Mediziner ausgeführten „Werk der Liebe“: „Es ist so, wie wenn ein guter Arzt, wenn die Krankheit so schlimm und gefährlich ist, Hand, Fuß, Ohr oder Augen abnehmen und entfernen muss,
um den Körper zu retten.“ Weil Gott ja selbst, wie der Reformator glaubt, der Obrigkeit das Schwert überreicht hat (Römerbrief 13), gilt: „[D]ie Hand, die das Schwert führt und tötet, ist dann
auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott henkt, rädert [sic!], enthauptet, tötet und führt den Krieg. Das alles sind seine [Gottes! p.b.] Werke
und sein Gericht.“ Aus dem Vergleich mit dem Medizinerhandwerk folgert Luther: „Man darf beim Soldatsein nicht darauf sehen, wie man tötet, brennt, schlägt und gefangen nimmt usw. Das tun die
ungeübten, einfältigen Kinderaugen“, sondern man muss „auch dem Amt des Soldaten oder des Schwertes mit männlichen Augen zusehen, warum es so tötet und grausam ist. Dann wird es selber beweisen,
dass es ein durch und durch göttliches Amt ist und für die Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst ein anderes Tun.“ Bei ihrem Kriegsdienst sollen die Soldaten – „nicht als
Christen, sondern als Glieder und als untertänige, gehorsame Leute, dem Leibe und dem zeitlichen Besitze nach“ – „der Obrigkeit gehorsam sein (Titus 3,1)“. Die Obrigkeit darf für ihre Kriege
Söldner verdingen, deren Broterwerb das Kriegshandwerk ist; diese dürfen aber nicht habgierig sein und auch keine Lust an dem von ihnen ausgeführten Töten verspüren. Wenn die obrigkeitlichen
Legitimationsfragen [gemäß Luthers Staatsideologie] geklärt sind, „dann ziehe vom Leder und schlage dazwischen in Gottes Namen“!
Ohne Luthers „Sola gratia“ kann heute keine überzeugende Theologie mehr betrieben werden, wie Eugen Drewermann in seinem Luther-Buch aufzeigt.[8] Doch nicht nur friedenskirchlich ausgerichtete
Christ*innen machen größte Bedenken geltend, nach den Abgründen der neuzeitlichen Gewaltgeschichte und angesichts des zivilisatorischen Ernstfalls im dritten Jahrtausend die lutherische Staats-
und Kriegsideologie – einschließlich der enthaltenen Rechtfertigung von individueller wie kollektiver (d.h. militärischer) Todesstrafe – noch immer im Friedensdiskurs der Gemeinde Jesu
heranzuziehen. Auch innerreformatorisch wurden Abweichler – wie die Rückkehrer zur frühchristlichen Gewaltfreiheit – durch Luthers Voten zur Ermordung freigegeben.[9] Wenn der Reformator Menschen
vor Augen hatte, die ihm zutiefst nicht behagten, konnte er sich – z.T. ohne Selbstkorrektur – in grenzenlosen Gewaltphantasien verlieren: Die Häuser der Juden sollten seinem Ratschlag zufolge
niedergebrannt werden („Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücken führen, einen Stein um den Hals hängen, ihn hinabstoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams“: Tischreden
Nr. 1795); wider die aufständischen Bauern lautete seine Losung: „Steche, schlage, würge hie, wer da kann. Bleibst du drüber tot, wohl dir, […] du stirbst im Gehorsam göttlichen Wortes und
Befehls“; im Jahre 1532 empfahl er den Fürsten zu Anhalt – gottlob vergebens, ein behindertes „Wechselkind“ in Dessau zu ersäufen[10] (um den baldigen Tod des Kindes beteten dann die Lutherischen
stattdessen zu Gott); die korangläubigen Türken schließlich, so Luther, seien „nicht wert, dass sie Menschen heißen“[11]. Das alles mag „zeitbedingt“ sein – genauso „zeitbedingt“ wie die fatalen
Schriften über den Staatsgehorsam, welche 1939-1945 selbst die regimekritischen / gegnerischen Lutheraner aus der Bekennenden Kirche (trotz „Barmen“!) mehrheitlich zu einer aktiven Beteiligung
an Hitlers Völkermordkrieg gen Osten bewegten.
Ich weiß durch die jüngste Zuschrift eines ehemaligen Tübinger Kommilitonen, dass Luthers Version der nachkonstantinischen „Zwei-Schwerter-Lehre“ manchen Pastoren noch immer als verbindlicher
Bekenntnisartikel gilt. Doch bei einigen Ausführungen im Buch von Sigurd Rink musste ich doch schlucken: „Als gläubiger Protestant habe ich mich quasi von Kindesbeinen an mit Luther beschäftigt.
Doch gerade in meiner Funktion als Militärbischof sind mir seine Schriften eine wertvolle Referenz und bei aktuellen Fragen von Krieg und Frieden eine stete Orientierungshilfe. Ich bin immer
wieder fasziniert davon, mit welcher Weitsicht und Trennschärfe Luther als Kirchenmann im von Gewalt beherrschten Spätmittelalter auf die Kriegsproblematik blickte.“ (S. 82)
Da der Militärbischof auf den nachfolgenden Seiten sich die wesentlichen staatstheologischen Pfeiler von Luthers Kriegsschrift des Jahres 1526 zur Norm setzt, sehe ich Anlass zu Besorgnis. Vorab
wird wahrlich euphemistisch konstatiert: „Luther war kein bedingungsloser Pazifist“ – und den Lesern suggeriert, Luther habe bezüglich religiöser Fragen tötende Gewalt nicht befürwortet (S. 82),
was ja historisch keineswegs zutrifft. Der weitere Gang: Die Menschen sind in dieser unerlösten Welt „unweigerlich Sünder“; es gibt eine – gemäß Augsburger Bekenntnis – „von Gott legitimierte
staatliche Gewalt“; diese trägt nach Ausweis von Römerbrief 13 zu Recht die Schwertgewalt, und wenn sie diese zum maßgeblichen – löblichen – Kriegszweck gemäß Luthers Schrift einsetzt
(Verteidigung nur zum Schutze des Nächsten!), ist das militärische Agieren ein „Notwehrakt der Nächstenliebe“.
Sigurd Rink will die aus seiner Sicht überzeugendsten Kapitel der Kriegsschrift Luthers so heranziehen, dass der Reformator zum Ahnherr einer – faktisch allerdings doch wieder vorrangig
militärisch gedachten – „Schutzverantwortung“ (R2P) werden kann (z.B. S. 86-87). Man muss zugeben, auf diese Weise hätten lutherische Kriegstheologen[12] in der Geschichte nicht die Abgründe der
nationalen und dann völkischen Kriegsdoktrin (zur Sicherung der „Lebensgrundlagen“ des auserwählten deutschen Volkes) betreten können. – Gesetzt den Fall, die (durchaus selektive) Berufung des
Militärbischofs auf Luthers Traktat kann als authentische Interpretation des Reformators gelten: Zu überprüfen bleibt dann, ob dieser Ansatz innerhalb der Welt, in der wir leben, ein tauglicher
Beitrag sein kann. Schon auf der evangelischen „Militärseelsorge“-Synode 1957 wurden Zweifel laut, ob man Luthers Schrift dem Soldaten in einer atomar bewaffneten Armee empfehlen darf.[13] Martin
Luthers ‚gerechter Krieg‘ (aus Liebe) ist „ein kleiner, kurzer Unfriede, der einem ewigen, unermesslichen Unfrieden wehrt, ein kleines Unglück, das einem großen wehrt“. Was hat das nun aber mit
einem militarisierten Weltgeschehen zu tun, das mittels totalitärer neuer Militärtechnologien den demokratischen Diskurs auf unserem Globus aus den Angeln hebt und in dem ein jeder – wie eh und
je – seine geostrategisch und ökonomisch motivierten Militäraktivitäten als „Notwehrakte der Liebe“ deklariert? Was auch hat die schöne Lutherformel mit all den von S. Rink besichtigten
Kriegsschauplätzen zu tun, die als „kleine, kurze Interventionen“ begonnen haben und regelmäßig zu „unermesslichen“ Endlos-Kriegen ausgewachsen sind? Es gilt, was S. Rink so ausdrückt: „Das zum
Frieden mahnende Zeugnis der Kirche fruchtet nämlich nur dann politisch, wenn es der komplexen Realität gewachsen ist.“ (S. 20)
4. Exkurs: „Sola gratia“ – ein Bekenntnisartikel ohne Bezug zum Weltgeschehen?
In der hebräischen Bibel („Altes Testament“) gibt es Passagen zum „Jahwe-Krieg“, die trotz Protest der Exegeten[14] oft unter die Überschrift „Heiliger Krieg“ gestellt werden und von genozidalen
Massenabschlachtungen auf Befehl eines als „Kriegsmann“ vorgestellten Gottes handeln. Sigurd Rink will diese Befunde nicht ganz übergehen („das Alte Testament ist … ein grundehrliches Buch“) und
verweist auch auf die prophetische Vision des „großen Friedens aller Nationen“, die das nationalreligiöse Denken überwindet (S. 74-77). Das anschließende Referat zur Botschaft Jesu besteht aus
sieben Zeilen zur Bergpredigt, Matthäus 5-7 (S. 77); viel bedeutsamer ist für den Essay der Rekurs auf das 13. Kapitel des Römerbriefes („Schwertamt“ der staatlichen Obrigkeit). Bezugnahmen auf
Forschungen zur neutestamentlichen Friedenstheologie und zur Gewaltfreiheit Jesu gibt es im Buch nicht. Stattdessen werden die Leser auf den großen Königsberger Philosophen verwiesen (S. 88:
„Kant erklärt den Frieden zur Sache der Vernunft“), dessen wegweisende Ausführungen zu einem für alle Staaten auf dem Globus verbindlichen und verbindenden Völkerrecht nach zwei Weltkriegen in
der Charta der Vereinten Nationen von 1945 Gestalt angenommen haben. „Wirklichkeitssinn“ bedeutet für Rink die Erkenntnis, dass der Mensch böse ist (S. 249) und also offenbar die Befreiung von
Gewalt nicht als das attraktivere Leben erfahren kann. De facto besteht die Basis des Militärbischofs aus einer an Max Weber angelehnten sogenannten „Verantwortungsethik“[15], der im Nebensatz
auch noch eine gute Gesinnung – als handlungsmotivierend – beigesellt ist (S. 246-252). Als Kontrast hierzu wird eine selbsterlösende, auf das „absolut Gute“ zielende „Moral des perfekten
Friedens“ (S. 250) konstruiert, bei der man allerdings nicht erfährt, wer so etwas vertritt. – Eine Analyse der ökonomischen, politischen und kulturellen Systemzusammenhänge des gegenwärtigen
Weltgeschehens bleibt ganz ausgespart.
Wenn die Ordnung dieser Welt – gemäß Luthers Sicht – weltlichen Obrigkeiten übertragen ist, denen kein Geringerer als Gott selbst die „Schwertgewalt“ verliehen hat, und die Soldaten
folgerichtig nicht als Christen, sondern als Untertanen der rechtmäßigen, von Gott selbst (!) legitimierten weltlichen Herren in den Krieg ziehen, wäre es legitim, unter Verzicht auf eine
eigentliche theologische Sichtweise z.B. die bürgerliche europäische Vernunftethik zur Basis eines Bischofsbuches über Militär und Krieg zu machen.[16] Die Sache liegt indessen schon dann ganz
anders, wenn man mit Augustinus auf die mächtigen und hochgerüsteten „Räuberstaaten“ des Erdkreises schaut, die in einer ganz anderen Liga spielen als seeräuberische Piraten und der Völkerwelt
ihr „Recht“ diktieren. Was hilft es uns hier weiter, wenn Martin Luther „die absolute [sic!] Notwendigkeit und Legitimität eines weltlichen Regiments“ betont, „das durch Gesetze und notfalls
Gewalt für Recht und Ordnung zwischen den Menschen sorgt“ (S. 98)? Straft Gott die Menschenwelt durch hochgerüstete, ökonomisch überlegene Großmächte, die mit ihrem „Schwert“ auf dem Globus
einzig ihr „Recht des Stärkeren“ durchsetzen und allüberall für heillose Unordnung sorgen? Ein halbes Jahrtausend bereiste Europa mit modernen ‚christlichen Kriegswaffen‘ die ganze Erdkugel und
hinterließ allüberall ungezählte Millionen Tote. Das Projekt eines auf universalen menschenrechtlichen Prinzipien und Demokratie fußenden Gemeinwesens fällt erst in eine winzige Zeitspanne der
Menschengeschichte. In Europa erweist sich ein noch junges Friedens-Gefüge längst wieder als überaus zerbrechlich …
Das „Schicksal“ der UN-Charta[17], die die Menschheit von der Geisel des Kriegs befreien soll, ist kein Argument gegen Kants Vernunftprinzipien oder die UNO, sondern ein dramatisches Lehrstück
über die Grenzen der „Vernunftethik“[18]. Das Buch von Sigurd Rink spiegelt eine verbreitete Weltwahrnehmung bürgerlicher Kreise: Die Welt ist zwar mit gravierenden Krisenherden durchzogen, aber
es kommt kein zivilisatorischer Ernstfall (bzw. Kairos) in den Blick, der uns die Möglichkeit eines grundlegenden Scheiterns der Gattung homo sapiens und die Notwendigkeit eines durchgreifenden
„Kurswechsels“ bewusst werden lässt[19]:
Das unerlöste Selbstverstehen des Menschen hat eine Zivilisation der Angst hervorgebracht, die unentwegt dem Tod davonrennen will, ihm aber gerade so direkt in den Rachen läuft: eine Welt der
systemischen Gnadenlosigkeit, die von den Gottheiten „Münze, Macht und Militär“ regiert wird; eine Welt der systemischen Gier, die mit einem ökologisch geschulten Konsumverhalten der aufgeklärten
Individuen u.ä. nicht geheilt werden kann. Was in dieser Menschenwelt fehlt, sind nicht Moralpredigten, sondern leibhaftige Erfahrungen in einem (Lebens-)Raum der Gnade – ohne endlose
Verschuldungskreisläufe. Eine ernstzunehmende, von Luther inspirierte Friedenssuche müsste heute danach fragen, welche Bedeutung das „Sola gratia“ (das „rein geschenkte Leben“) für die Eröffnung
eines neuen Zivilisationsweges haben könnte, der den kommenden Generationen ein gnädigeres Schicksal gewährt als die Selbstzerstörung.
5. Ehrliche Mitteilung eigener Ratlosigkeit
Es sei nachdrücklich vermerkt: Militärbischof Sigurd Rink übt sich – fernab von etwaigen Unfehlbarkeitsansprüchen – als Buchautor in größter Demut: „Das Thema [Krieg und Militär] ist kompliziert
und brisant. Meine Gedanken mögen manchem falsch und naiv erscheinen. Ich nehme dieses Risiko in Kauf und jede Unzulänglichkeit auf mein Konto.“ (S. 11) „Ich kann und will in diesem Buch keine
Antworten geben. Stattdessen möchte ich mich meinen Zweifeln aussetzen, möchte meine Position hinterfragen, mein Gewissen schärfen“ (S. 28). „Ist mein eigenes Fundament an Glaubensgewissheiten
und Prinzipien stark genug, um eventuellen Versuchungen zu widerstehen? Würde ich als Pragmatiker und Verantwortungsethiker, als der ich mich inzwischen verstehe, klare Grenzen erkennen und
benennen […]? Drohen auch meine Konturen zu verschwimmen?“ (S. 50) „Das Zugeständnis, dass militärische, rechtserzwingende Gewaltanwendung im äußersten Fall legitim sein kann, birgt die Gefahr,
dass sich ethische Maßstäbe abschleifen und nur noch eine militärische Logik nachvollzogen wird. Armeeangehörige, aber auch Militärseelsorger mitsamt ihrem Militärbischof sind immer wieder von
dieser Versuchung bedroht.“ (S. 109) [Zur Frage, ob der Westen vor der Gewalteskalation in Jugoslawien „Fronten verschärft und zur Radikalisierung beigetragen hat“:] „Ich weiß es nicht. Politik
ist ein schwieriges, hoch komplexes Unterfangen. Sie ist immer Interessenspolitik, und einen Kräfteausgleich herzustellen ist eine Sisyphusarbeit.“ (S. 123) „Manchmal frage ich mich, wenn ich
mich mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr beschäftige […], ob ich nicht schon abgestumpft bin, den Krieg als Realität akzeptiert habe und militärische Gewalt nicht mehr als die zwangsläufig
Tod, Leid und Zerstörung bringende, unbedingt zu vermeidende Ausnahme betrachte“ (S. 209). „Afghanistan macht mich ratlos, ich muss es gestehen. Die Wirklichkeit ist immer zu komplex, als dass es
ein eindeutiges Richtig oder Falsch gäbe, aber in Afghanistan ist die Lage besonders vielschichtig und verworren.“ (S. 211)
Ich lese solche Passagen im Buch als Hilferuf und auch als entscheidenden Anknüpfungspunkt für einen Dialog zwischen dem Autor und jener friedenskirchlich ausgerichteten Christenheit, die den
Illusionskomplex des Militärischen als unvereinbar mit einem zukunftsträchtigen Zivilisationskurs der menschlichen Gattung bewertet. Wer Ratlosigkeit, Zweifel und Widersprüche angstfrei zur
Sprache bringt, begibt sich auf den besten aller denkbaren Wege. Der Bruder Militärbischof mag mir verzeihen, dass ich an dieser Stelle ungehalten bin über die inkonsequente Durchführung des
Ansatzes. In meinen Augen gibt es an vielen Stellen des Buches folgende Struktur der Darstellung: Zunächst kommen auf recht fundierte Weise Einsprüche wider die Militärlogik sowie Kritik am
(vorgeblichen) Sinn eines militärischen „Projektes“ zur Sprache. Es folgt aber sogleich die staatsprotestantische Widerrede. (Im Hintergrund vermeint man eine Stimme zu hören: Es kann ja gar
nicht sein, dass die staatstragenden Kreise in unserem Land mit ihrem militärischen Programm falsch liegen und in Wirklichkeit genauso ratlos sind hinsichtlich der von ihnen zu verantwortenden
Militärunternehmungen wie „alle anderen“.) An dieser Stelle angelangt, komme ich als Leser ins Rutschen (ohne irgendeinen Anknüpfungspunkt), weil im Buch statt einer fassbaren Standortbestimmung
oder einem Fazit zu den gesichteten Widersprüchen nur ‚pastorale‘ Appelle erfolgen – mit dem Tenor: ‚Alles ist fürchterlich komplex. Man kann nie wissen. Das Militärwesen hat aber trotz alledem
unsere Solidarität verdient!‘
6. Der Völkermord in Ruanda als „Umkehrerlebnis“
Der Ausgang der 1992 als humanitärer Einsatz zur Lebensmittelversorgung begonnenen UN-Mission(en) in Somalia hat vor mehr als einem Vierteljahrhundert Sigurd Rink in der Einschätzung bestärkt,
„dass die UNO nicht die Institution der realisierten Moral“ war, für die er „sie gern gehalten hätte“ (S. 60-62). In den entsprechenden Ausführungen wird nirgendwo deutlich, dass die beteiligten
US-Einheiten die „Friedensmission“ förmlich in einen Krieg umwandelten: sie bombardierten z.B. eine Clanversammlung und jagten in Wildwest-Manier einen Milizenführer, dessen Stern u.a. infolge
der Hilfsmaßnahmen längst gesunken war (dank der US-Strategen aber wieder zum Heldenhimmel aufstieg). Die aktionistischen US-Militaristen verlegten sich Anfang Oktober 1993 ohne Absprache auf ein
Tagesabenteuer, das 18 jungen US-Amerikanern und vermutlich über tausend Bewohnern der Hauptstadt Mogadischu den Tod einbrachte.[20] Hier wurde uns drastisch vor Augen geführt, warum man keine
Militärs bei Friedensmissionen und bei der Entwicklung rein polizeilicher Einsatzformen beteiligen darf. (Die überaus kostspielige Entsendung von 1.700 Bundeswehrsoldaten nach Somalia
erschöpfte sich in ihrer „Sinnhaftigkeit“ darin, deutsche Auslandseinsätze zu enttabuisieren; das Rote Kreuz konnte dagegen mit geringen Mitteln hernach wirklich helfen.)
Die in der Buchwerbung ins Zentrum gerückte Abkehr Sigurd Rinks vom Pazifismus erfolgte bald nach dem ‚Somalia-Fiasko‘: „Angesichts des Völkermords in Ruanda hatte ich zu der Haltung gefunden,
mit der ich zwanzig Jahre später das mir angetragene Amt des Militärbischofs annehmen und […] mit Sinn füllen konnte“ (S. 65, vgl. S. 62-63, 65, 92, 112-119). Es kann nun nicht erwartet werden,
dass der ruandische Genozid an bis zu einer Million Menschen (Tutsi, Helfende, Opposition) im Jahr 1994 sowie seine jahrzehntelange Vorgeschichte (mit vieltausend-, ja hunderttausendfachen
Morden) in einem Buchessay-Kapitel ausführlich referiert wird.[21] Der Autor beschränkt sich aber auch nur auf die Benennung des mit Macheten ausgeführten Völkermordes „vor den Augen der
Weltöffentlichkeit“ – unter gleichzeitigem Abzug eines Teils der UNO-Blauhelme vor Ort (S. 62-63). Das wiederum ist eine kaum angemessene Kurzform, da „Ruanda“ doch – wiederholt – als Anlass für
die „endgültig[e]“ wie „prinzipiell[e]“ Abkehr Rinks vom „Fundamentalpazifismus“ und seine Hinwendung zu militärischen Strategien zur Sprache kommt. – Einige Stichworte wären schon angebracht
gewesen: Die europäischen Kolonialmächte (Deutschland, dann Belgien) hatten je zu ihrer Zeit die sozio-ökonomischen Ausdifferenzierungen innerhalb der Bevölkerung des Landes in die Kategorien
ihrer rassistischen Anthropologie gegossen, dann in „ethnischen Pässen“ gleichsam festgeschrieben und sich wechselweise dienstbar gemacht. (Schon hierbei hat die römisch-katholische Kirche
assistiert, statt allen Getauften im Rahmen der Katechese die „humani generis unitas“[22] ins Herz zu pflanzen.) Keinen betrübte vor der Zuspitzung die ökonomische Lage Ruandas infolge auch der
aggressiven – neoliberalen – Globalisierung. Die Verabredungen und Einsatzbefehle zum Völkermord erfolgten u.a. durch Einheiten, die das den Hutu gewogene Frankreich bewaffnet und ausgebildet
hatte, und in der „Breite“ über den Äther. Technisch machbar gewesen wäre ein nicht-militärisches „Jamming“-Manöver gegen die Genozid-Kommunikation des Hetzradios. Dies hätte den Mordapparat
förmlich „kopflos“ gemacht und u.U. hunderttausende Menschenleben retten können. Doch hierzu fehlte 1994 der politische Wille! Die Motive der Gleichgültigkeit im Vorfeld, als man noch hätte
gegensteuern können, und während des sich bereits vollziehenden Massenmordens waren genau die gleichen: Afrikanische Menschenleben galten einfach nicht als eine wichtige Angelegenheit.
Wer „Ruanda“ als Schlagwort gegen die Befürworter gewaltfreier Strategien anführt, suggeriert, ein „UNO-Krieg“ hätte den Genozid stoppen können oder jedenfalls mehr Menschenleben gerettet als
Menschentode verursacht. Doch die abgründige Erfahrung dieses lang angekündigten Völkermordes drängt gerade dazu, nichtmilitärische Infrastrukturen der Prävention und nichtmilitärische
Instrumente des Reagierens[23] im Krisenfall zu schaffen. Das 2001 erarbeitete und 2005 auch in einem UN-Dokument enthaltene Konzept der Schutzverantwortung[24] (Responsibility To Protect, R2P)
kann dann überzeugen, wenn es nicht mehr militärisch gedacht (bzw. durch Militär-Unlogik verdorben) wird.[25] Heute wissen wir, warum R2P in den Militärdoktrinen der mächtigen Staaten nicht
vorkommt: Man will sich offenhalten, das „moralische Konzept“ selektiv heranzuziehen, wenn dies bei einer Militärintervention gerade nützlich ist.
Auf der Basis der Menschenrechtsargumentation von R2P wäre es zwingend, z.B. auch eine völkerrechtlich verbindliche Verantwortung (Pflicht) zur Ernährung der Verhungernden (Responsibility To
Feed), zur Rettung der Ertrinkenden oder zur Medikamentenversorgung von sonst totgeweihten Gruppen zu beurkunden. Der Vorzug auf diesen Gebieten liegt darin, dass man hier mit erprobten Mitteln,
wissenschaftlicher Präzision und garantiertem Erfolg wirklich Millionen Menschenleben retten kann. Doch „Teilen statt Töten“ heißt die Devise auf dem Globus nicht. Ein Verantwortungsethiker muss
aus dem gigantischen Ausmaß der Untätigkeit der Mächtigen bei Krisen, die ohne Militärkontext das grundlegende Menschenrecht auf Leben von Millionen betreffen, zwangsläufig schließen, dass es
moralisch integre, überzeugende und uneigennützige Akteure für eine – als tauglich vermutete – R2P-Militärintervention am allerwenigsten gibt.
Die Lehre aus Ruanda lautet: Die Mächtigen dieser Welt, die mancher für von Gott legitimiert hält, wollen beim nächsten Völkermord wieder nur zuschauen oder – mit viel Schadenswirkung und ohne
Nutzen für die Opfer – einfach Bomben abwerfen. Traurige Wahrheit ist nämlich, dass ein Vierteljahrhundert später immer noch keine nennenswerte „Infrastruktur“ zur Prävention von Völkermord
geschaffen worden ist. Man unterhält einige experimentelle Spielwiesen für zivile Konfliktlösung, doch der Fluss der riesigen Geldströme in die Kriegsbudgets zeigt an, wo der eigentliche
Geschäftsbereich – das Hauptgewerbe – liegt. Die Prioritäten der potenten Staaten sind klar. Obwohl man es nach Lektüre der Präambel des Grundgesetzes anders erwarten müsste, gibt es auch in
Deutschland kein Friedensministerium.
7. „Tyrannenmord“ in … Bagdad, Tripolis …?
Eine Neuordnung des gesamten Nahen Ostens – samt einer Kette von Regime-Auswechselungen – wurde in neokonservativen US-Denkfabriken schon vor den Terroranschlägen vom 11.9.2001 gefordert. Viele
Millionen Menschen in aller Welt haben im Februar 2003 im Rahmen der bislang größten vernetzten Friedensdemonstration der gesamten Geschichte vorgetragen, der auf der Grundlage von
Lügenkonstruktionen geplante Angriffskrieg gegen den Irak müsse auch deshalb unterbleiben, weil er eine ganze Erdregion in ein Pulverfass verwandeln werde. Die US-Administration, die
Verantwortung trägt für 1 Million Tote[26] und die Entstehung von ISIS, lag sogar hinsichtlich der erwarteten Vorteile für die eigene Nation falsch. Die Menschen des globalen Friedensprotestes am
15. Februar 2003 lagen hingegen, wie jeder heute sieht, auf ganzer Linie richtig mit ihrer Einschätzung.
Die Bombardierung Libyens durch NATO-Staaten im Jahr 2011 – ohne deutsche Beteiligung – wird auch von vielen bürgerlichen Kritikern als völkerrechtswidrig eingestuft. Ihr gingen u.a.
Kampagnenmeldungen über Verbrechen des Regimes voraus, die später nicht verifiziert werden konnten. Eine UN-Resolution wurde genutzt, um faktisch als bewaffnete Partei in den Bürgerkrieg
einzugreifen und einen – aus geostrategischen wie ökonomischen Gründen gewünschten – Regimewechsel auf militärische Weise herbeizuführen. Die informelle Bezugnahme auf das Konzept der
„Schutzverantwortung“ (R2P) hält keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand.[27] Vielmehr zeigt der Kasus Libyen, wie lügnerisch und explosiv die militärische Version von R2P ausfällt. Das erste
Ergebnis war ein weiterer zusammengebrochener Staat als Kampfplatz für Islamisten. Die verheerenden Folgen der NATO-Bombardements in Libyen – für ungezählte Menschen, die gesamte Region und
Europa – gehen Jahr für Jahr mit größeren Leiden einher – bis zur Stunde.
Die Methode ist hinlänglich bekannt: Man sucht sich aus den zahllosen ‚Saddams‘ und ‚Gaddafis‘ dieser Erde, jeweils denjenigen heraus, der nicht mehr nützlich oder willig ist bzw. einer
‚Regionalen Neuordnung‘ etc. im Wege steht, und führt Krieg. (Die eigenen Folterkeller sind notwendig, die der anderen Werke des Teufels.) Sigurd Rink nun schreibt vom Vorsatz der USA und
williger NATO-Staaten, „in Libyen und im Irak die beiden irregeleiteten, brutalen Diktatoren […] vom Thron zu bomben und ihr Unterdrückungsregime gleich mit. Als Ultima Ratio gerechtfertigte
Tyrannenmorde, könnte man meinen“ (S. 171). Er ist froh, dass Deutschland an diesen beiden „Tyrannenmorden“ – mit hunderttausenden Todesopfern – nicht beteiligt war und beschreibt die
dramatischen Folgen. Es fehlt jedoch etwas. Angriffskriege der USA und ihrer NATO-Verbündeten werden bei ihm nie im Klartext als Kriegsverbrechen benannt: Die Intentionen und Zielsetzungen des
transatlantischen Komplexes sind doch eher menschenfreundlicher Natur, nur die Durchführung überzeugt nicht immer. Die Höflichkeitsformeln, mit denen westliche Interventionen kritisiert werden,
möchte man fast zu einer Stilblütenlese zusammentragen. Das Buch des Militärbischofs zeugt von einem sehr hohen Maß an Loyalität zur NATO. (Es gibt daneben keine Grundsatzkritik des militärischen
Denkens, die eine wirklich neue Perspektive eröffnet: jenseits mächtiger militärischer Interessensbündnisse, die die Anforderung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ja nie erfüllen
können.)
Sehr unklar fallen dann die Ausführungen zu Syrien aus, wo der Dürre-Periode 2006–2010 (Klimawandel: Ernteausfall, Viehsterben, Lebensmittelteuerung …) die ersten Unruhen folgten, die
konkurrierenden Regionalmächte (je mit einer ‚Globalmacht‘ im Hintergrund) auf den Plan traten und dann ein ohnehin schon brutaler Bürgerkrieg durch interessegeleitete Einflussnahme von außen
zu einer Hölle ohne Ende auswuchs. (Schließlich war die Gefahr groß, dass sich – nicht ohne Assistenz westlicher Akteure – auf dem Territorium eine Islamistische Terrorstaatlichkeit festsetzt.)
Sigurd Rink schreibt, die Weltgemeinschaft habe in Assads Syrien schon vor Bildung einer Anti-IS-Koalition versagt: „Man hatte zu lange weggeschaut, hatte aus eigenen Interessen einen Diktator
gestützt und großes Unrecht hingenommen. Präventives Handeln gehört noch nicht zu den Stärken der Weltgemeinschaft.“ (S. 206) Hier würden wir gerne mehr erfahren über Zeitpunkte, mögliche Akteure
und Art der verpassten „Prävention“. An ein „Immer weiter so“ – also einen militärischen „Tyrannenmord“ wie im Irak oder in Libyen – hat der Militärbischof doch wohl eher nicht gedacht.
8. Deutsche Auslandseinsätze – Afghanistan ohne Ende
Der deutsche Anteil an den Gewalt-Eskalationen im zerfallenden Jugoslawien und speziell an dem mit Assistenz der rot-grünen Regierung erfolgten NATO-Angriffskrieg 1999 wird in einer neuen
Forschungsarbeit aus dem Potsdamer Zentrum der Bundeswehr gravierend eingeschätzt.[28] Die der Öffentlichkeit in unserem Land mittels Fälschungen schmackhaft gemachten Bombenabwürfe haben im
Kosovo keine „humanitäre Katastrophe“ verhindert, sondern den Flüchtlingsströmen 1999 noch ein Fünffaches an Elend hinzugefügt. Im Kosovo-Kapitel seines Buches (S. 130-139) vermittelt S. Rink,
dass in dem instabilen Land, in dem seit 20 Jahren (!) auch Bundeswehrsoldaten im Einsatz sind, von wirklichem Frieden noch immer keine Rede sein kann: Konfliktaustragung zwischen Kosovo-Albanern
und Kosovo-Serben mittels „Bombenanschlägen und Attentaten“ (!), „Kriminalität und Korruption“, ein immer noch lodernder staatlicher Konflikt zwischen Kosovo und Serbien sowie staatliche
Strukturen, deren Stabilität bzw. Nachhaltigkeit nur schwer eingeschätzt werden kann. So das erste Lehrstück über Bomben: 1999 – 2019.
Ausführlich – und kritisch – erörtert wird im Buch (S. 140-164, 170) die Beteiligung des deutschen Militärs mit über tausend Soldaten an MINUSMA in Mali, das ist die „zurzeit gefährlichste
Mission der Vereinten Nationen und der zweitgrößte Einsatz der Bundeswehr“ (S. 159). Indirekt erschließt sich, dass die Gewalteskalation in Mali ab Anfang 2012 auch den Folgen der
NATO-Bombardierung Libyens 2011 zuzurechnen ist. Das in den Lineal-Grenzen Afrikas eingebrannte Kolonialregime der Europäer ist mitnichten Vergangenheit. Namentlich Frankreich verfolgt in Mali
ganz eigennützig gravierende Rohstoffinteressen (S. 149); auch die europäischen „Migrationspartnerschaften“ mit afrikanischen Schwerpunktstaaten sind keine Werke der selbstlosen Nächstenliebe.
Der Militärbischof kommentiert die NATO-Devise „Werte und Interessen“[29] wie ein Realpolitiker: „Mag es auch den moralischen Wert einer Handlung schmälern, wenn mit dieser ebenso eigene
Interessen verbunden sind, so kann eine solche Handlung dennoch legitim und sogar geboten sein.“ (S. 150) – Zwei besondere Schwachstellen des Buches kommen im Mali-Kapitel zum Tragen: S. Rink
sieht zwar das Ungleichgewicht der internationalen Organisation zugunsten der reichen Industrienationen (S. 150-151) und destabilisierende „Globalisierungseffekte“ (S. 166), doch es kommt ihm
nicht der Gedanke, der grassierende Staatenzerfall („failed states“) könne überhaupt systemisch zusammenhängen mit einer Wirtschaftsweise, die den ganzen Globus knebelt und nach Wahrnehmung des
Papstes über Leichen geht. Zum anderen staunt man, dass im Kontext der Sahelzone nicht nachdrücklich die infolge der Klimakatastrophe prognostizierte Explosion von Massenelend zur Sprache kommt.
Die Unterbelichtung der ökologischen Frage im Buch ist überhaupt frappierend (Klimaflucht, Krieg um Wasser, militärische Umweltzerstörung[30] …). – Insgesamt beleuchtet Rink den Mali-Einsatz
kritisch. Die (u.a. im Sinne Frankreichs gestützte) Regierung taugt offenbar nicht viel. Keiner kann sagen, ob die militärischen Ausbildungsmaßnahmen und die – den Waffenschmuggel anheizenden –
Rüstungslieferungen für Mali bald nicht doch wieder den Islamisten zugutekommen [vgl. auch S. 200-203]. Droht am Ende gar eine „Afghanistanisierung“ (S. 159), also ein Militäreinsatz ohne Ende
und Ausstiegsmöglichkeit? Das Schlussfazit des Militärbischofs fällt erstaunlich und mutig aus: Der „Sinn von MINUSMA“ steht für mich „nicht infrage“ (S. 164).
Sehr kritisch geraten ist auch das Kapitel über die „NATO in Afghanistan“ (S. 208-245).[31] Von Anfang an suggerierte der Westen nach dem US-Überfall des Landes, seine erwählten Verbündeten vor
Ort seien nicht korrupt. (Das Gebiet wurde durch unsere Regierung vor einer Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen unlängst als „sicher“ deklariert, weil man sonst der Öffentlichkeit sagen
müsste, dass die Lage dort nach fast zwei Jahrzehnten wirklich so schlimm ist wie allgemein angenommen.) Die auf deutsches Geheiß hin erfolgte tödliche Bombardierung von über 100 Menschen, die
der Militärbischof unter der Überschrift „Kundus-Affäre“ behandelt, nannte sogar der ‚Spiegel‘ ein Verbrechen. Deutsche Soldaten kämpfen gegen ein militarisiertes Gotteskriegertum, das der Westen
in Kooperation mit verbündeten Ölmonarchen (d.h. fundamentalistischen Staatsmächten) vor Jahrzehnten erstmals kreiert hat. Der Krieg in Afghanistan erhält sich selbst nach einem ehernen Gesetz:
durch systemische Korruption, Söldnerwesen, Waffenhandel und horrenden Profite (Kriegs- und Kriegsanhangs-Industrie, Wiederaufbaukonzerne, Drogenökonomien …). In zwei Jahrzehnten wurden von allen
Akteuren so viele Milliarden für diesen Krieg ausgegeben, dass die Weltgesellschaft mit dieser Summe den Hunger in der ganzen Welt beenden oder eine restlose Umstellung auf erneuerbare Energien
bewerkstelligen könnte. Durfte man aus verantwortungsethischer Sicht so viel Geld ausgeben, um damit unermessliche Gewalteskalation, endlosen Tod, ungezählte Traumata und eine zerstörte Zukunft
von Generationen zu verursachen?[32] Darf man auf diese Weise, also mit der ‚militärischen Methode‘, immer weitermachen? Wo ist etwas nicht schlimmer, sondern besser geworden in Afghanistan? Dazu
mag Sigurd Rink im 19. Kriegsjahr nur ein einziges konkretes Beispiel nennen: „Besuchten unter den Taliban gar keine Mädchen die Schule, so sind es jetzt immerhin dreißig Prozent.“ (S. 244)
9. Das Paradigma „Gewaltfreiheit und Gerechter Frieden“ fehlt
Bereits 1990 hat die Ökumenische Weltversammlung von Seoul die nach 1945 erfolgte weltkirchliche Ächtung des Krieges konkretisiert durch ihr Grundsatzvotum für aktive Gewaltfreiheit.[33] Aufgrund
seines Irlands-Friedenseinsatzes in jungen Jahren (S. 44-47) wird Sigurd Rink mit dem Lebenswerk der weltweit engagierten Nobelpreisträgerin Mairead Corrigan-Maguire vertraut sein. Sie hat uns
2016 auf der Internationalen katholischen Konferenz „Nonviolence and Just Peace“[34] im Einklang mit den Erfahrungen aller aus „Krisengebieten“ angereisten Teilnehmer*innen den Ausgangspunkt
jeder realistischen Friedensarbeit auf dem Globus so zugesprochen: „Violence doesn’t work!“ Das Buch „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ von Erica Chenoweth
und Maria J. Stephan gehört zu jenen Studien, die aufzeigen, wie erfolgreich aktive Gewaltfreiheit im Gegensatz zu militärischen Abenteuern ist.[35] Der Papst hat 2017 zu einem durchgreifend
neuen Politikstil der Gewaltfreiheit aufgerufen. Die Geschwister in der Badischen Landeskirche wollen die herrschende Untätigkeit nicht länger ertragen und legen konkrete Vorschläge – nebst
Zeitplan – vor, wie der Umstieg auf Friedenspolitik gelingen kann. 2019 verständigen sich die christlichen Friedensbewegungen unter dem Leitmotiv ‚Friedensklima‘ mit der jungen Generation, die
unter Beifall der gesamten Wissenschaftselite kompetenter als die Spitzen der etablierten Politik die „Klimakrise“ beleuchtet und nunmehr sieht, dass die Kriegsapparatur alle Prozesse zum Guten
hin blockiert … Von all dem findet man im Buchessay von Sigurd Rink nichts. So kann darin das ewig alte bzw. ewig neue Bild konstruiert werden, der Pazifismus sei eine gesinnungsethische
„Außenseiterposition“, die „sich aus allem heraushalten“ mag, „keine Verantwortung übernehmen und sich nicht die Hände schmutzig machen“ muss und „gleichzeitig das Treiben der anderen mit dem
moralisch reinen Blick der Unbeteiligten“ verurteilt – auf Deutsch übersetzt: Drückeberger (S. 44, vgl. 199). Als Domäne der gewaltfreien Christinnen und Christen erscheinen die Bespiegelung des
eigenen „Gutseins“ und das Nichtstun, welches sich nicht dafür einsetzen will, „dass die Erde ein bisschen weniger Hölle ist“ (S. 249).
Sigurd Rink schreibt freilich selbst: „Gewalt ist die allerschlechteste Antwort auf einen Konflikt“ (S. 121). Gegen die Position, dass Kriegsgewalt noch nie eine annehmbare Antwort und taugliche
Lösung war, gibt es auch bei ihm keine ‚empirischen Argumente‘. Vor drei Jahrzehnten kam es in Europa zu einer Revolution, die den „Kalten Krieg“ beendete und bei der kein einziger Schuss
abgefeuert wurde. Alle Türen standen über Nacht weit auf, um eine „Friedensdividende“ einzufahren und den Vorsatz der UN-Charta von 1945 in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen – den
noch nicht Geborenen – endlich wahr werden zu lassen. Im Handumdrehen diktierte jedoch eine ultimativ hochgerüstete Supermacht ihre Vorgabe, die ‚Neue Weltordnung‘ werde eine Ära der
Militärinterventionen sein. Die UNO sollte klein gehalten, gegängelt und verächtlich gemacht werden.[36] Das Buch des Militärbischofs bewegt sich – statt an das europäische Wunder der
Gewaltfreiheit und die Chance für einen neuen Zivilisationskurs im Jahr 1990 anzuknüpfen – leider noch immer auf diesem Plateau. Ich halte das für grundfalsch, zumal Sigurd Rink eben kein
einziges Interventionsbeispiel in seinem Essay anführen kann, das gemessen an Anspruch und vorgeblichen Zielen der Weltordner als „erfolgreich“ bezeichnet werden kann. Martin Luthers
altruistischer „Notwehrkrieg der Nächstenliebe“ ist in unserer Welt nirgendwo ansichtig. Der militärische Heilsglaube stellt – wie gehabt – unentwegt seinen Bankrott unter Beweis. Deshalb votiert
die Christenheit heute – mit Ausnahme der nationalreligiösen Kulturchristen und Fundamentalisten – dafür, die geistigen, seelischen, kulturellen, wissenschaftlichen, technologischen und
materiellen Reichtümer unserer Menschenwelt diesem Komplex vollständig vorzuenthalten, stattdessen aber jenen Strategien einer gewaltfreien und solidarischen Verhinderung bzw. Lösung von Krisen
zuzuführen, die nachweislich funktionieren.
10. Weitere auffällige Leerstellen
Der „Krieg der Zukunft“ infolge der seit Jahrzehnten unaufhörlich anschwellenden „Revolution in military affairs“ wird von Sigurd Rink kritisch gesehen (S. 274-277). Die extralegalen
Hinrichtungen durch bewaffnete – wohl sehr oft von Deutschland aus gesteuerte – US-Drohnen bewertet er als kontraproduktiv, den Einsatz autonom agierender Waffensysteme[37] („künstliche
Intelligenz“) lehnt er ab. Wenn die Weltgesellschaft dem Rad nicht in die Speichen greift, werden die „autonomen Systeme“ freilich kaum noch aufzuhalten sein. Was im Buch nicht zum Tragen kommt,
ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die totalitären Potenzen moderner Kriegstechnologien, die schon in naher Zukunft „mulilaterale“ – also demokratische, kommunikative und kooperative – Prozesse
auf dem Globus schier unmöglich machen könnten.
Aus dem Drama der Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 schließt der Verfasser, „dass Atomwaffen als ultimatives Abschreckungsmittel noch immer nicht ausgedient haben, doch technologisch sind sie
kaum mehr zeitgemäß“ (S. 276). Diese lapidare Abhandlung des Themas kommt einer Befürwortung oder zumindest weiteren Duldung der atomaren Bewaffnung gleich. Dem Militärbischof dürfte aber kaum
verborgen sein, dass derzeit an „zeitgemäßen“ – und insbesondere auch leichter einsetzbaren – Nuklearwaffen gearbeitet wird und hierbei im Rahmen eines neu aufgelegten atomaren Wettrüstens Kosten
in astronomischer Höhe anstehen (weltweit gibt es gegenwärtig etwa 14.000 nukleare Sprengköpfe; die deutschen Eliten zielen gemeinsam mit Frankreich auf die Führungsrolle in einer ‚Atommacht
Europa‘). Rein gar nichts wird im Buch des Militärbischofs ausgeführt zur neuen Qualität der Ächtung schon der Infrastruktur atomarer Massenvernichtung auf Ebene der UNO[38] und im
weltkirchlichen Diskurs, zum skandalösen Agieren der deutschen Bundesregierung im Sinne der Atombombenbesitzer (und der eigenen völkerrechtswidrigen „Teilhabe“ an der Bombe), zur
zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Atomindustrie (Gronau), zum Fortdauern der NATO-Erstschlagoption, zur Nuclear Posture Review[39] (USA 2018) und zu den in Deutschland stationierten
Atomwaffen, für die Deutschland neue Flugzeuge beschaffen will und die im ‚Ernstfall‘ von Soldaten bedient werden, für deren Seelenheil der Militärbischof Verantwortung trägt. Viele Getaufte im
Land erhoffen sich, dass die Kirchen – eingedenk der lästerlichen Bomben-Apologien[40] von deutschen Staatskatholiken und Staatsprotestanten im 20. Jahrhundert – jetzt endlich eintreten in den
Kreis der weltweiten Geschwister, die dem Atomgott widersagen.[41]
Ganz ausgespart ist im Buch ebenfalls der rüstungsindustrielle Komplex[42] Deutschlands, der im Weltvergleich einen Spitzenplatz einnimmt, seit Jahrzehnten Kriegsgüter exportiert, die dem
Unfrieden in aller Welt dienen, und nicht zuletzt Voraussetzung dafür ist, durch Waffenlieferungen (anstelle von Soldatenentsendungen) deutschen Einfluss in fernen Ländern zu sichern. Der u.a.
von den USA unterstützte Krieg einer von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz im Jemen hat eine der größten „humanitären Katastrophen“ der Gegenwart herbeigeführt. (Dies spielt im deutschen
Mediengefüge kaum eine Rolle. Im Buch von Sigurd Rink werden dem Schauplatz Jemen auf S. 119 fünf Wörter gewidmet.) Erst aufgrund eines Beschlusses des italienischen Parlaments kann eine Tochter
des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, dessen Kriegsprofite stetig steigen, seit Sommer 2019 keine Mordbomben mehr für den Einsatz im Jemen liefern.
Inzwischen gehört es gleichsam zur Staatsräson, dass die eigene Militärdoktrin mit der Sicherung geostrategischer und geo-ökonomischer Machtinteressen, mit Rohstoffsicherung, mit freien Märkten,
Meeren und Handelswegen sowie mit der Abwehr (!) von Flüchtlingen aus Elendsregionen zu tun hat. Spätestens ab 2006 haben tausende Christinnen und Christen von unten die großen Kirchen in einer
Ökumenischen Erklärung aufgerufen, eine solche Militarisierung der deutschen Politik öffentlich anzuklagen. In ihrem Schreiben vom 1. September 2015 fordern die evangelischen und katholischen
Friedensorganisationen gemeinsam alle Kirchenleitungen im Lande zu einer öffentlichen Klarstellung darüber auf, dass Zielvorgaben zur geostrategischen und ökonomischen Interessenssicherung in
Militärplanungen schon mit dem Minimalkonsens der ökumenischen Friedensethik unvereinbar sind.[43] Der Komplex der Militärdoktrin ist zentral für die von Sigurd Rink bearbeitete Frage „Können
Kriege gerecht sein?“, doch er schweigt sich in seinem Buch hartnäckig über dieses Thema aus.
Positiv anzumerken ist, dass der Militärbischof in seinen Ausführungen den ökumenischen Konsens zur Solidarität mit allen Flüchtlingen teilt und zumindest ein Problembewusstsein bezüglich der
Militarisierung des Migrationskomplexes erkennen lässt (S. 164-180). Bezogen auf die konfrontative NATO-Politik gegenüber Russland werden mögliche ‚Fehler‘ des Westens immerhin in Erwägung
gezogen und – auch vor dem Hintergrund einer abgründigen Geschichte – die Gefahren einer Eskalation benannt (S. 123-128, 131-132).
11. Militärbischöfliche Assistenz für die Aufrüstung des Militärapparates
Namhafte Stimmen auch aus dem bürgerlichen Spektrum warnen in diesem Jahr verstärkt vor einer Aufrüstungsspirale sondergleichen, die freilich schon längst entfesselt ist. Militärbischof Sigurd
Rink beschreitet den gegenteiligen Weg, indem er für eine Erhöhung der deutschen Militärausgaben plädiert. Er bezieht sich hierbei auf die interessegeleiteten Klagen des ‚transatlantischen
Lobbyisten‘ und Zeit-Herausgebers Josef Joffe über „gravierende Ausstattungsmängel der Bundeswehr als Gefährdung der weltpolitischen Rolle unseres Landes“ (S. 278) und nimmt selbst so Stellung:
„Um gleichwertiges Mitglied multilateraler Bündnisse zu sein, das den Erfordernissen der gegenwärtigen Welt gerecht wird, fehlt es der Bundeswehr erheblich an Personal und Ausstattung.“ Dies sei
einer „gewollten jahrelangen Schrumpfung der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges“ geschuldet, und „in der stiefmütterlichen Behandlung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ sei ein
„Verdrängungswunsch am Werk“ (S. 260). Dies ist nahezu der Originalton der Aufrüstungspropheten. Sigurd Rink wünscht für die europäischen Länder, „dass die USA an ihrer Seite bleiben“: Dafür
„müssen sie ihren Beitrag zum Verteidigungsetat der NATO stabilisieren … Das ist ohnehin längst überfällig, um den USA Bündnispartner auf Augenhöhe zu sein – und erst recht nötig […], sollten die
NATO-Länder gezwungen sein, ohne die USA ein europäisches Verteidigungsbündnis zu stärken.“ (S. 259) Dass in diesem Kontext via Nebensatz auch Investitionen „in Krisenprävention und Wiederaufbau“
gefordert werden, überzeugt nicht. Denn Sigurd Rink klärt seine Leserschaft nicht über die real existierenden Weltverhältnisse auf: Die globalen Budgets für humanitäre und friedensfördernde
Aufgaben ohne Militäreinbindung verhalten sich zum „Weltrüstungshaushalt“ lediglich wie eine kleine Portokasse.
„Mehr Personal“ für die Bundeswehr lautet die Forderung, aber die willigen Bewerber bleiben aus. Eine allgemeine Wehrpflicht würde besser zu einem von Luther abgeleiteten Ideal des „Staatsbürgers
in Uniform“ passen als – vorzugsweise aus dem Kreis der Benachteiligten rekrutierte – Berufssoldaten oder Söldner aus jenem ökonomisierten (privatisierten!) Kriegskomplex, dessen Anwachsen Sigurd
Rink durchaus mit Sorge betrachtet (S. 98-102, 261-263). Das Plädoyer des evangelischen Militärbischofs für eine Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht kann keinem Leser des Buches
verborgen bleiben; die Chancen für eine Verwirklichung dieses Ansinnens schätzt der Verfasser allerdings selbst denkbar gering ein.
12. Die Militärseelsorge als „Zukunftslabor der Kirche“?
Militärseelsorge ist in den Augen von Sigurd Rink heute kein Instrument mehr zur Bändigung ungehorsamer Soldaten, sondern: eine „Zwillingsschwester der Inneren Führung“ (sic!), gleichwohl ein
staatsunabhängiges „Fenster zur Zivilgesellschaft“; einzige Sachwalterin des Beichtgeheimnisses; nicht dafür zuständig, „die Soldaten von der Sinnhaftigkeit ihrer Einsätze zu überzeugen“;
raumgebend für Zweifel und „für das Nachdenken über das Nichtwissbare und Unberechenbare“; Hüterin von „Ressourcen christlich-religiöser Tradition“ und sogar „so etwas wie ein ‚Zukunftslabor der
Kirche‘“ (S. 102-107, 136-137, 269-274).[44] Verständlich ist das Bemühen, die Arbeit der Militärseelsorge gegenüber dem Bundesministerium, dem das Militärbischofsamt zugeordnet ist, und
gegenüber der z.T. kritischen Kirchenöffentlichkeit in ein freundliches Licht zu stellen. Kritische Forschungen zur wirklichen „Reichweite“ der Seelsorge des Militärkirchenwesens bleiben
unberücksichtigt.
Glaubhaft vermittelt wird der Vorsatz einer „Seelsorge für die Schwächsten, die Einsatzgeschädigten“, die „Opfer unter dem Rad zu verbinden“ (S. 266-267). Wenn zukünftig im öffentlichen Diskurs
auch noch die empirischen Daten zum ganzen „Ausmaß der psychischen Verheerungen“ hinzutreten und betroffene, kriegstraumatisierte Soldaten selbst mit Hilfe der Militärseelsorge zu Wort kommen,
könnte daraus ein gesellschaftlich wirksamer Einspruch[45] werden. Mit Logik unvereinbar ist es allerdings, wenn Rink suggeriert, die in der Bevölkerung zunehmende Ablehnung des sogenannten
„Afghanistan-Einsatzes“ sei gleichbedeutend mit einer Verweigerung von „Aufmerksamkeit und Verständnis“ für die „schwerst traumatisierten Kriegsveteranen“ (S. 226). Das genaue Gegenteil liegt ja
der Ablehnung zugrunde.
Das Buch endet mit einem militärbischöflichen Predigtappell, welcher die Leser einem imaginären „Wir“ einfügt: „Deutschland ist weltweit an militärischen Einsätzen beteiligt […]. Das militärische
Engagement der Bundeswehr geschieht in unser aller Namen, in der Verantwortung der deutschen Gesellschaft. Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen.“ (S. 279) Gegenüber diesem Wort der
evangelischen Militärkirchenleitung sei klargestellt, dass das sogenannte deutsche Militär-„Engagement“ (samt Entsendung von Soldaten, Aufrüstung, unverantwortlicher Rekrutierungspropaganda
etc.) keineswegs im Namen der friedenskirchlich ausgerichteten Christinnen und Christen erfolgt. „Wir“ halten den Militärapparat für ein esoterisches Gefüge, dessen Heilsversprechen einer
rationalen – wissenschaftlichen – Überprüfung nicht standhalten und weltbrandgefährlich sind.
Literatur / Medien (mit Kurztiteln)
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https://www. heise.de/tp/features/Kirche-fuer-Drohnen-und-autonome-toedliche-Waffensysteme-3502835.html
Bürger 2016a = Peter Bürger: „Politik ist ein schmutziges Geschäft“. Wer übernimmt nun Verantwortung für die Aufrüstung der saudi-arabischen Öl-Theokratie? In: telepolis, 06.01.2016.
https://www.heise.de/tp/features/Politik-ist-ein-schmutziges-Geschaeft-3377553.html
Bürger 2016b = Peter Bürger: Militär-Weißbuch 2016: Nur PR-Wortgeklingel? In: telepolis, 27.08.2016. https://www.heise.de/tp/features/Militaer-Weissbuch-2016-Nur-PR-Wortgeklingel-3301567.html
[Mit zahlreichen weiterführenden Links]
Bürger 2018 = Peter Bürger: „Suche Frieden“ und finde die staatstreue Christenlehre. Der Katholikentag in Münster zeigt erneut, dass von den Großkirchen ein Widerspruch gegen die Militarisierung
der deutschen Politik nicht zu erwarten ist. In: Telepolis, 20.05.2018. https://www.heise.de/tp/features/Suche-Frieden-und-finde-die-staa tstreue-Christenlehre-4052638.html?seite=all
Bürger 2019 = Peter Bürger: Zivilisatorischer Ernstfall: Menschwerdung. Die Botschaft der revoltierende Schülergeneration lautet: Es ist nicht zu spät für eine glückliche Jugend des homo sapiens.
In: Lebenshaus Schwäbische Alb – Website, 09.04.2019. https://www.leben shaus-alb.de/magazin/012186.html
Dear 2019 = John Dear: Gewaltfrei leben. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. Hg. von Thomas Nauerth. Norderstedt 2019.
Drewermann 2010 = Eugen Drewermann: Heimkehrer aus der Hölle. Märchen von Kriegsverletzungen und ihrer Heilung. Ostfildern: Patmos 2010.
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Lietzmann 1957 = Sabina Lietzmann: Kann auch ein Kriegsmann selig sein? Die evangelische Synode diskutiert die Militärseelsorge. In: Die Zeit, Nr. 11 vom 14. März 1957.
[https://www.zeit.de/1957/11/kann-auch-ein-kriegsmann-selig-sein/komplettansicht]
Luther 1526 = Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526. [Die in dieser Rezension zitierten Passagen und editorischen Zwischenüberschriften folgen einer im Internet
abrufbaren Textfassung der Schrift in heutigem Hochdeutsch: https://www. sermon-online.de/]
Luther 2014 = Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können. Hg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg. Delitzsch 2014.
Mawick 2014 = Reinhard Mawick: Sigurd Rink wird neuer Militärbischof der EKD. Rat und Kirchenkonferenz der EKD ernennen Propst von Süd-Nassau. Pressestelle der EKD. Hannover, 27. März 2014.
https://www.ekd.de/pm51_2014_sigurd_rink_wird_neuer_militaerbischof_der_ekd.htm
Meer 2013 = Marcus Meer: Martin Luther zum Islam. Ein frühneuzeitlicher Beitrag zur Toleranzdiskussion der Gegenwart? Bielefeld, 30.05.2013. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/v eroe
ffentlichungen/nachrichten/studierendenwettbewerb-2013-arbeit-meer.pdf?__blob=publicationFile&v=1
Münchner Friedenskonferenz 2017 = Münchner Friedenskonferenz: Manifest. Schutz der Menschenrechte durch Prävention. Neue Fassung vom 08.02.2017. [Text und Redaktion: Gertrud Scherer, Gudrun Haas,
Thomas Rödl, Heinz Staudacher, unter Einarbeitung von Beiträgen von Hans-Christof Sponeck, Heidi Meinzolt, Mohssen Massarrat und Oliver Knabe und weiterer MitarbeiterInnen des Trägerkreises der
Münchner Friedenskonferenz.]. In: Internetseite „Internationale Münchner Friedenskonferenz 2017“. http://www.friedenskonferenz.info/index.php?ID=50
Naturwissenschaftler 2019 = Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative zum 74. Jahrestag des Atombombenabwurfes auf Hiroshima. In: In: Lebenshaus Schwäbische Alb – Website, 05.08.2019.
https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/012431.html
NDR 2018 = Verwundete Soldaten – Wege aus dem Trauma. Ein Film von Juliane Möcklinghoff und Maren Höfle. NDR, 17.09.2018. (Abrufbar: https://www.ardmediathek.de).
Paech 2017 = Norman Paech: Anmerkungen zur Zukunft des Völkerrechts. Vortrag bei der Verabschiedung von Johannes M. Becker von der Universität Marburg, am 28. Oktober 2017, Alte Mensa Marburg.
http://www.norman-paech.de/
pax christi 2016 = pax christi Bewegung – Deutsche Sektion e.V. (Hg.): pax christi-Konferenz in Rom – Gewaltlosigkeit und Gerechter Friede, Oktober 2016. (= impulse Nr. 34). Berlin 2016.
https://www.paxchristi.de/file/download
Pflüger 2019 = Markus Pflüger: Krieg ist der größte Klimakiller. In: IMI-Ausdruck 4/2019, S. 39-41. https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-97-2019-Klima.pdf
Rudolf 2013 = Peter Rudolf: Schutzverantwortung und humanitäre Intervention. Eine ethische Bewertung der „Responsibility to Protect“ im Lichte des Libyen-Einsatzes. (= SWP-Studie.) Berlin:
Stiftung Wissenschaft und Politik 2013. https://www.swp-berlin.org/fileadmin/ contents/products/studien/2013_S03_rdf.pdf
Schmid / Nauerth / Engelke / Bürger 2019a = Rainer Schmidt, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke, P. Bürger (Hg.): Im Sold der Schlächter. Texte zur Militärseelsorge im Hitlerkrieg. Norderstedt
2019.
Schmid / Nauerth / Engelke / Bürger 2019b = Rainer Schmidt, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke, P. Bürger (Hg.): Die Seelen rüsten. Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge. Norderstedt
2019.
Süß-Demuth / Mielke 2019 = C. Süß-Demuth/L. Mielke: „Theologe: Ächtung von Atomwaffen ins Grundgesetz.“ In: Evangelische Friedensarbeit, 11.07.2019.
https://www.evangelische-friedensarbeit.de
Thonak 2015 = Sylvie Thonak: Ecclesiola extra ecclesiam? Zur Zukunft der evangelischen Militärseelsorge. In: Deutsches Pfarrerblatt 11/ 2015, S. 632-634; 642-644.
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ANMERKUNGEN
[1] Erstveröffentlichung in: Schmid/Nauerth/Engelke/Bürger 2019b, S. 369-400. Text hier verändert.
[2] Mawick 2014 (Ernennung durch Rat und ‚Kirchenkonferenz‘, dem ‚föderativen Leitungsgremium‘ der EKD); vgl. kritisch zu den Widersprüchen zwischen dem bestehenden Militärkirchenwesen und der
synodalen Kirchenfassung (sowie zu versuchten Einflussnahmen des Militärs auf Militärseelsorger): Thonak 2015.
[3] Braun 2013 schreibt über Bischof Franziskus von Rom: „Er trägt ein Kreuz aus billigem Eisen auf der Brust, keines aus Gold oder Silber“.
[4] Gaede 2018, S. 116-121, 258-272.
[5] Schmid/Nauerth/Engelke/Bürger 2019a.
[6] Luther 1526; Luther 2014.
[7] Augustinus, der im Kontext eines totalitären Platonismus den Kriegstod als eine Sache beschreiben konnte, über die man sich nicht groß aufregen muss, meinte z.B.: „Der Soldat, der den Feind
tötet, ist schlechthin der Diener des Gesetzes. Es ist ihm daher ein Leichtes, seinen Dienst sachlich auszuüben …“ (De libero arbitrio I,5,12). „Es versteht sich nämlich, daß, wenn Gott selbst
töten heißt, sei es durch Erlaß eines Gesetzes, sei es zu bestimmter Zeit durch ausdrücklichen an eine Person gerichteten Befehl, solch ein Ausnahmefall vorliegt. Dann tötet nicht der, der dem
Befehlenden schuldigen Gehorsam leistet, wie das Schwert dem dient, der es führt.“ (De civitate Dei I,21)
[8] Drewermann 2016; vgl. zu allen Themen der Rezension: Drewermann 2017.
[9] Siehe z.B. das 1536 von Luther mitverfasste Gutachten „Ob Christliche Fürsten schuldig sind, der Widerteuffer unchristlichen Sect mit leiblicher straffe und mit dem schwert zu wehren?“ für
Landgraf Philipp von Hessen. Dazu apologetisch: Herrmann 1975.
[10] Hohnsbein 2017.
[11] Vgl. aber auch: Meer 2013.
[12] Vgl. Knab 2017; Grumbach 2018; Gaede 2018, S. 136-139, 143-146, 155, 181, 190, 197-198, 200-202, 206-215; Schmid/Nauerth/Engelke/Bürger 2019a, S. 39, 125, 184-185, 213-214 u.v.a.
[13] Lietzmann 1957.
[14] Groß 2009.
[15] Vgl. äußerst passend hierzu die guten Ausführungen über „Bellizistische Gesinnungsethik versus pazifistische Verantwortungsethik“ in: Becker-Hinrichs 2015.
[16] Vgl. zur verhängnisvollen Wirkung der lutherischen Lehre von der „Eigengesetzlichkeit“ der weltlichen Bereiche: Gaede 2018, S. 272-278.
[17] Vgl. dazu Paech 2017.
[18] Deshalb hatten die Vereinten Nationen dieses Jahrhundert mit der Dekade für eine in der Weltgesellschaft verankerte Kultur der Gewaltfreiheit eröffnet.
[19] Bürger 2019. Im Buch von S. Rink gibt es keinen Hinweis darauf, dass der Verfasser auch nur ansatzweise den Zusammenhang zwischen dem dramatischen Krisenstand der Ökologie und dem
militärisch dominierten Zivilisationsgefüge wahrnimmt.
[20] Vgl. auch zur filmischen Re-Inszenierung der Somalia-Mission: Bürger 2007, S. 305-310, 330-331.
[21] Allein der knappe Überblick „Völkermord in Ruanda“ auf Wikipedia umfasst 37 Seiten.
[22] Glaubenssatz von der unteilbaren Einheit des Menschengeschlechts.
[23] U.a. auch im Sinne intelligenter „polizeilicher Strategien“ ohne Militäransatz (Becker-Hinrichs 2015; Münchner Friedenskonferenz 2017). – Die These, Gewaltfreiheit könne nach Beginn eines
Genozides nichts mehr bewerkstelligen, ist falsch. Die Juden Dänemarks überlebten die Zeit der Shoa allein deshalb, weil die Bevölkerung eines ganzen Landes dem Begehren der deutschen Mörder in
aktiver Gewaltfreiheit widerstand. Bomben haben hingegen noch keinen Genozid aufgehalten, geschweige denn verhindert. Die Juden Europas waren ermordet, als der Hitlerfaschismus durch
Massenbombardements militärisch besiegt wurde (viele hatten in der westlichen Welt als Flüchtlinge vergeblich um Aufnahme gebeten). Im Jahr 1945 galt der Vorsatz der Vereinten Nationen: Wir
brauchen grundlegend neue Zivilisationsstrategien – ein Ende des Programms „Krieg“!
[24] Vgl. sehr erhellend zu dem völkerrechtlich keineswegs verbindlichen Konzept „R2P“: Rudolf 2013. Fast alle Einwände in dieser Arbeit wider den „humanitären“ Militärinterventionismus basieren
auf der „realistischen Schule“; man kann sie jedoch auch – mit wenigen Ausnahmen – nachvollziehen unter der Voraussetzung eines kosmopolitischen Ethos (Verantwortung für das universale
Menschenrecht ohne Militärreligion).
[25] Dass Sigurd Rink das auf drei Säulen fußende Konzept der „Schutzverantwortung“ (R2P) ganz vorrangig militärisch versteht, ergibt sich u.a. aus dessen Ableitung aus Luthers Kriegs-Schrift
(S. 86-87; vgl. S. 92 und 112-119) und dem Umstand, dass er den mittleren Bestandteil (Reagieren bei akuter Menschrechtskrise …) faktisch mit einer Militärintervention identifiziert (S.
171-172).
[26] IPPNW 2015.
[27] Rudolf 2013.
[28] Vgl. Augstein 2019.
[29] Vgl. zur NATO-Doktrin „Werte und Interessen“ den wahrhaft historischen Beitrag des CDU-Parlamentariers Roderich Kiesewetter in der Parlamentsdebatte vom 8.7.2011 zu den deutschen
Kriegsgüterexporten an Saudi-Arabien: „Wir haben die werteorientierte und interessengeleitete Außenpolitik. Es ist Aufgabe der Regierung, diesen Spannungsbogen zwischen Werten und Interessen
auszuhalten. Wir gehen normalerweise davon aus, dass Werte und Interessen ein und dasselbe sind. Aber Politik hat nichts mit ‚Wünsch dir was‘ zu tun. [Zwischenruf des grünen Abgeordneten Jürgen
Trittin: Politik ist ein schmutziges Geschäft.] Politik ist ein hartes Geschäft […]. Ich weiß auch, dass in dem Spannungsbogen der Verantwortung die Bundesregierung mit aller Kraft auf
Saudi-Arabien einwirken wird. […] Unser Land ist das einzige Land in Europa, das seine Rüstungsexporte in klarer Weise offenlegt. […] Entscheidend ist auch, dass unsere Regierung den
Spannungsbogen zwischen Werten und Interessen erkennt und aushält. […] Wir stehen in der Region, die unsere Unterstützung braucht [Zuruf von der LINKEN: Aber doch nicht mit Panzern!], vor einem
Paradigmenwechsel. Diese Unterstützung ist sowohl hinsichtlich der zivilen Krisenprävention als auch hinsichtlich der Nachbarschaftspolitik und der Lieferung von Rüstungsgütern ganz
entscheidend.“ (Zit. Bürger 2016a)
[30] Pflüger 2019.
[31] Anderes wird man auch im persönlichen Gespräch mit Militärseelsorgern und Soldaten auf Kirchentagen kaum hören. Eine Bekannte hat mir anvertraut, ihr Sohn habe nach dem Einsatz in
Afghanistan gesagt: „Mama, wir schießen da auf Gegner, die sind noch Kinder.“ In meinen Armen hat ein Afghanistan-Veteran geweint, der zu einem ihm später nicht einsichtigen Schießeinsatz in ein
Gebäude geschickt worden war und hernach monatelang in der Psychiatrie zubringen musste. (Er hatte mich wegen der „Friedenstaube“ an meinem T-Shirt angesprochen.)
[32] Vgl. IMI 2017; Afghanistan Index 2017; Brown University 2019. – Zur Afghanistan-Debatte in der EKD: Gaede 2018, S. 252-257.
[33] Grundüberzeugung VI: „In Jesus Christus hat Gott die Feindschaft zwischen Nationen und Völkern überwunden und will uns auch jetzt Frieden in Gerechtigkeit schenken. ... Wir bekräftigen
Gottes Frieden in seiner vollen Bedeutung. Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen und Konflikte durch aktive Gewaltfreiheit zu lösen. Wir werden jedem
Verständnis und System von Sicherheit widerstehen, das den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln vorsieht. ... Wir verpflichten uns, unsere persönlichen Beziehungen gewaltfrei zu gestalten.
Wir werden darauf hinarbeiten, auf den Krieg als legales Mittel zur Lösung von Konflikten zu verzichten.“
[34] pax christi 2016. – Die japanischen Bischöfe, in Rom vertreten durch den wunderbar antiklerikalen Taiji Katsuya, haben sich die Botschaft der Konferenz vollständig zu eigen gemacht.
[35] Eine populäre Inhaltsangabe zu diesem Werk in: Dear 2019, S. 132-142.
[36] Verantwortlich für die traurigen Grenzen der UNO-Arbeit sind die mächtigen Staaten, nicht die UN-Charta. Ein nennenswertes deutsches Engagement für die – so dringliche – Reform ist nicht
erkennbar. Zu leichtfertigem UNO-Bashing, Bettelstatus und skandalös niedrigen Budgets der Vereinten Nationen vgl. die Arbeiten von Andreas Zumach, UNO-Korrespondent für die tageszeitung
(taz).
[37] Vgl. zu einem kritikwürdigen „Waffen“-Dossier aus dem Institut der röm.-kath. Soldatenseelsorge: Bürger 2014.
[38] „Nach zehn Jahren kontinuierlichem Engagement der ‚International Campaign for the Abolition of Nuclear Weapons‘ (ICAN [Nobelpreisträger]), das von vielen zivilgesellschaftlichen
Organisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz, vom Ökumenischen Rat der Kirchen und vom Vatikan unterstützt wurde, wurde am 7. Juli 2017 die Nuklearwaffenkonvention der Vereinten Nationen
beschlossen, der UN Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty of the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW). Dem Vertrag haben 122 der in den Vereinten Nationen versammelten Staaten zugestimmt, 70
davon haben ihn inzwischen unterschrieben.“ (Rundbrief Church and Peace e.V., 07.08.2019)
[39] Aktuell zugänglich gemacht durch die Federation of American Scientists unter: https://fas.org/irp/doddir/dod/jp3_72.pdf
[40] Mit besonderer theologischer Kompetenz – anschlussfähig an die Weltuntergangs-Blasphemie des Jesuiten Gustav Gundlach – der Deutschnationale und EKD-Pionier Bischof Otto Dibelius: „Die
Anwendung einer Wasserstoffbombe ist vom christlichen Standpunkt aus nicht einmal eine so schreckliche Sache, da wir alle dem ewigen Leben zustreben. Und wenn zum Beispiel eine einzelne
Wasserstoffbombe eine Millionen Menschen töte, so erreichen die Betroffenen umso schneller das ewige Leben.“ (Zit. n. Hartwig Hohnsbein, in: Schmid/Nauerth/ Engelke/Bürger 2019, S. 380.)
[41] Vgl. knapp: Junker 2019. Der badische Oberkirchenrat Christoph Schneider-Harpprecht fordert gemäß dem weltkirchlichen Diskurs, die Ächtung der Atomwaffen ins Grundgesetz aufzunehmen
(Süß-Demuth/Mielke 2019).
[42] Der Rezensent wurde 2018 auf dem Katholikentag in Münster als Podiumsteilnehmer von einem röm.-kath. Generalleutnant „zurechtgewiesen“, weil er diesen Wirtschaftszweig als
Mordwaffenexporte bezeichnete. Recherchen ergaben, dass der „Bruder General“ im Präsidium einer Rüstungslobby-Organisation sitzt. – Auch bei kirchlichen Diskursen weiß man übrigens nicht immer,
für wen das Gegenüber einsteht. Man sieht Gesprächspartner als kirchliche Ethikdozenten an und entdeckt dann in den Mailadressen „bundeswehr.org“.
[43] Text in: Schmid/Nauerth/Engelke/Bürger 2019b, S. 349-351. Vgl. auch: Bürger 2006, Bürger 2011, Bürger 2016b, Bürger 2018. Beim 47. Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und
Konfliktforschung vom 19. bis 21. März 2015 (Spandau) setzte Generalleutnant a.D. Rainer Glatz (Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD) meinem Publikums-Einspruch zur neuen Militärdoktrin
sinngemäß entgegen: ‚Herr Bürger, wir reden noch viel zu wenig über unsere nationalen Interessen.‘ Der ev. Theologieprofessor im Podium war sich u.a. unsicher, ob die militärische Sicherung von
See- und Handelswegen einer großen Exportnation aus christlicher Sicht bedenklich sei. – Beachte dagegen das jüngste Statement des röm.-kath. Moraltheologen Prof. E. Schockenhoff zur
Mitverantwortlichkeit von „Deutschland und EU … für weltweite Armut“ (KNA 2019).
[44] Nachdenklich stimmt mich das Votum einer ev. Militärseelsorgerin bei einem Vortrag in Düsseldorf: Sie finde als Pfarrerin bei der Bundeswehr eine Kameradschaft, wie sie es in der Kirche
(!) leider nicht erlebt habe. Wie kühl muss es an vielen Orten zugehen, wo man sich gegenseitig „Brüder und Schwestern“ nennt.
[45] Hilfreiche Medien zum Thema: Drewermann 2010; Drljeviv 2017. Dagegen z.T. sehr paternalistisch, ohne kriegskritisches Paradigma und mit peinlicher Werbung für die Militärministerin: NDR
2018.