Veröffentlicht im April 2020: Die Gewaltfreiheit gehört in den Mittelpunkt von Kirche und Gesellschaft. Zu diesem Thema haben über 120 Fachleute von allen fünf Kontinenten der katholischen Kirche von pax Christi und der Kommission Justitia et Pax über vier Jahre lang beraten, sich zweimal dazu im Vatikan getroffen und 2019 ein Arbeitspapier beschlossen, in dem sie ihre Ergebnisse zusammenfassen. Sie haben sich zunächst mit der Frage befasst, warum Gewaltfreiheit im Zentrum der Kirche stehen soll. Hier wird eine fundierte Friedenstheologie exegetisch und systematisch vorgetragen. Im Anschluss wird beschrieben, welche Konsequenzen dies auch für den Alltag der Kirche hat. Dann aber greift das Dokument aus und formuliert eine Lehre der Gewaltfreiheit. In diesem Zusammenhang befasst sie sich auch mit den Themen Schutzverantwortung und Polizei. Im Internationalen Recht wird Neuland betreten, denn es wird dafür plädiert, sich nicht auf den Krieg zu fokussieren - unter welchen Umständen er statthaft ist (Jus ad bellum) und welches Recht im Krieg gilt (Jus in bello) -, sondern vielmehr zu fragen, wie Kriege und gewaltsame Konflikte verhindert werden können und wie es gelingt, wenn sie ausgebrochen sind, wieder aus ihnen herauszukommen. Sie sprechen darum von Jus in conflicitone, Jus ex bello und von dem Recht, nach Konflikten zu friedlicheren Verhältnissen zu kommen, Jus ad pacem. Diese Schrift (221 Seiten) konnte ich einsehen. Meine Zusammenfassung sowie Auseinandersetzung (28 Seiten) mit einigen Schwerpunkten des Dokuments kann bei mir nachgefragt werden: distelwenk@gmail.com
Stefanie Wahl, Stefan Silber, Thomas Nauerth (Hrsg.), Gewaltfreie Zukunft? Gewalt-freiheit konkret! Ethische und theologische Impulse. Dokumentation des pax Christi-Kongresses 2019. Münster 2021. € 19, 90.
Hier: Rezension von Gottfried Orth
Die fünf Prinzipien des friedenslogischen Denkens und Handelns, die Hanne-Magret Birckenbach in ihrem Beitrag zum Beginn des Buches benennt, erfüllen auch die Beiträge dieses Buches insgesamt:
sie sind kritisch, konstruktiv, konkret, komplex und auf Kooperation hin angelegt. So wird es nicht Wunder nehmen, dass ich den Reichtum dieses rundum empfehlenswerten Bandes auch nicht annähernd
in dieser Rezension andeuten kann, sondern mich auf wenige Gesichtspunkte und weiterführende Fragen beschränke.
Da ist zunächst im Beitrag von Heinz-Günther Stobbe die Erinnerung an die Friedensbewegung der 1980er Jahre, in deren Reihen sich „prominente Persönlichkeiten, Offiziere der Bundeswehr,
Initiativen von Wissenschaftler(innen) an den Universitäten, usw. befanden. Davon ist wenig übrig geblieben. Es wäre lohnend, nach den Gründen zu fragen. … Sich vor allem gegenseitig zu
bestätigen, kennzeichnet sektiererische Zirkel, die sich selbst ins Abseits manövrieren.“ (180). Hier stellt sich für mich die Frage nach der Bereitschaft zu neuen, auch punktuellen
Kooperationen. Thomas Nauerth fragt in seinem Beitrag, welche Fragen entstehen, wenn „wir die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil machen“ (Papst Franziskus) und benennt im Rückgriff auf
historische Situationen Fragen danach, was Geschichte – ich würde hinzufügen: und Geschichtsschreibung – eigentlich prägt, wer Subjekt gewaltfreien Handelns ist, aus welcher Motivation heraus
dies geschieht und wer eigentlich als Gegner in gewaltfreien Handlungskonzepten anzusehen ist (S. 105 ff). Damit sind nicht zuletzt Machtfragen gestellt, die es m. E. verdienten, historisch in
gegenwärtig-praktisch-politischer Absicht neu in den Blick genommen zu werden. Im Rückblick auf die Gründungsgeschichte(n) der deutschen Sektion von Pax Christi arbeitet Friedhelm Boll an den
Beispielen der Versöhnung mit Frankreich und Polen heraus, wie entscheidend für Friedenshandeln Versöhnungsarbeit und Erinnerungskultur sind (S. 43 ff). Der Beitrag fordert m. E. eine stärkere
Kooperation von Versöhnungs- und Friedensforschung und einer entsprechenden Praxis. Stefan Silber berichtet von der katholischen Initiative zur Gewaltfreiheit von Pax Christi International
(2016-2019). Dabei legt er besonderen Wert darauf, aufzuweisen, dass „Nichtgewalt“ effizient ist und dass jeweils situations- und kontextabhängig zu entscheiden ist, welche konkreten
Handlungsmöglichkeiten eine auf jesuanischer Praxis beruhende „Nichtgewalt“ eröffnet. Als Fazit der Arbeit dieser Initiative lese ich: „Nichtgewalt ist die christliche Antwort auf Gewalt, sie ist
die Strategie zur Lösung von Gewalt, die sich auf Jesus und auf die Tradition des Glaubens an ihn berufen kann. Das Prinzip der Gewaltfreiheit einzuschränken, weil es opportuner erscheint, lässt
sich nach dieser Argumentation nicht mehr rechtfertigen“ (151). Hier wäre m. E. weiter zu fragen, was, wenn dies so evident ist, einer entsprechenden Praxis der Christ:innen, Gemeinden, Kirchen
entgegensteht. Einen besonderen Text, überschrieben „Gewaltfreiheit in Tönen?“ hat Stefan Voges dem Band beigesteuert; er skizziert die verschiedenen Ebenen des Musiktheaters anhand von Philip
Glass‘ Oper „Satyagraha“, die Elemente der Biographie Gandhis thematisiert und musikalisch gestaltet, und beschreibt diese als Impulse für eine Spiritualität und Kultur der Gewaltfreiheit (S. 183
ff).
In seiner Vielfalt macht der lehrreiche Band insgesamt deutlich, dass es sich bei Gewaltfreiheit nicht lediglich um eine gesellschaftliche oder politische Strategie handelt, sondern um Prozesse
umfassender Verwandlungen ganz unterschiedlicher, kontextuell bestimmter Kulturen. Die im Anschluss an die Lektüre formulierten ersten Fragen verweisen einige der Punkte, die weiter zu bedenken,
die Texte anregen.